2. Einen Gruß tut der nackte Fuß
Serenus rannte, mit Shannon an seiner Hand die Straße Spinners End entlang in Richtung des alten Gewerbe- und Fabrikgebietes der Muggel. In der Eile waren beide noch in Schlafanzügen unter ihren Umhängen und in Shannons Falle waren sie sogar barfuß. Bei jedem unvorsichtigem Schritt musste Serenus´ kleine Schwester die Zähne zusammenbeißen. "Serenus, ich kann nicht mehr ...", wimmerte sie. "Komm schon, Shannon, nur noch ein bisschen", sagte er. "Aber ..." Er hörte, wie seine Schwester schniefte. "Na gut", sagte er dann endlich. Er sah sich um und rutschte mit ihr einen grasbewachsenen Abhang zu einem kleinem, von Muggeln angefertigten Bach hinunter. Dort würde man sie nicht so schnell finden. Shannon schrie leise auf. Erschrocken zog Serenus seinen Zauberstab. "Was ist los?" "Es ist eklig und nass!", schniefte sie. "Wo sind wir?" Er seufzte. "Lumos", sagte er und leuchtete um sich. "Ja, klasse", murrte er, als er sah, wie tief Shannon mit ihren nackten Füßen im Bach stand. "Komm raus da!" Es dauerte ein bisschen, bis Shannon Halt auf dem feuchtem Gras des Abhangs fand. "Was glaubst du, was unsere Eltern gerade machen?", fragte sie. "Ich will lieber nicht daran denken ...", äußerte Serenus besorgt. Ein merkwürdiges Gefühl in seinem Herzen bestätigte ihm, dass gerade etwas passiert war, was nicht sein sollte. Ihm fiel ein, dass er viel über seine Mutter wusste, dass sie ihm viel über ihre Schulzeit auf Hogwarts erzählt hatte und über ihren Freundeskreis, aber sein Vater ... In Hogwarts, wo er selber auch zur Schule gegangen war, hatte man bei dem Namen Snape immer etwas gezögert ihm gegenüber. Was hatte das alles zu bedeuten? "Wir müssen weiter", sagte Serenus. "Was? Aber wohin denn?", fragte Shannon. "Nach London", antwortete er knapp. "Aber unsere Eltern ..." "... hätten gewollt, dass wir irgendwohin gehen, wo wir sicher sind. Komm schon!"
Es war ungefähr eine Woche vergangen, es war ein schöner sonniger Tag in London und die Steine der Straßen waren schön warm und aufgewärmt. Die Muggel liefen in Sommerkleidung herum, junge Leute saßen unter dem Schatten der wenigen Bäume und schleckten ihre verschiedenen Sorten von Eiscreme. Ein gewisser Zauberer mochte die Muggelwelt sehr gerne inzwischen. Er hatte seine Tasche lässig um die Schulter gehängt und über seinem T-Shirt trug er eine Weste mit Kapuze. Zudem trug er eine leichte Jeans, die unten an den Säumen schon ziemlich ausgefranst war und so hätte man nicht im Traum daran gedacht, dass Harry Potter gerade eben an einem paar leichtbekleideter Studentinnen vorbeiging, die sich noch einmal nach ihm umdrehten, weil sie ihn nie gesehen hatten. Seine Narbe prangte immernoch auf seiner Stirn, wie eine Art Mahnmal. Aber die Geschichte, die mit ihr zusammenhing, war schon sehr lange her. Manche in der Zaubererwelt hielten es schon für eine Legende, die nicht wirklich wahr sein konnte. Harry Potter hatte sich einfach zurückgezogen, weil er die Sache mit den ewigen Zeitungsberichten über ihn und den dunklen Lord und all den anderen Quatsch nicht mehr ausgehalten hatte. Die einen mussten Lügen schreiben, die anderen versuchten krampfhaft nach ihm zu suchen, um ihm, dem einzig wahren Retter der Zauberwelt die Antworten aus der Nase zu ziehen. Es hatte ihm einfach gereicht. Aber manchmal konnte Harry Potter nicht umhin, doch noch ein paar magische Dinge zu gebrauchen - an erster Stelle stand sein Zauberstab und an zweiter sein Besen - der Feuerblitz. Er gebrauchte Muggelgeld und so konnte er ohne Probleme die Busverbindungen der Muggel benutzen. Als er sich an diesem Tag, es war Wochenende ganz hinten in den ersten Stock des Busses hineinsetzte, weil es da am Kühlsten war, saßen da zwei jüngere Gestalten, die ihn stutzig machten. Aber ohne Zweifel, die Umhänge die sie da trugen, zeigten eindeutig, dass sie beide Zauberer waren. Harry sagte zuerst nichts, beobachtete die beiden aus dem Augenwinkel, während er einen flüchtigen Blick in die Muggelzeitung warf, die jemand auf dem Nachbarsitz vergessen hatte. Der eine war bereits viel älter, als seine kleine Schwester denn unweigerlich sahen sich beide ähnlich. Auf sechzehn Jahre schätzte Harry ihn. Und er kam ihm irgendwoher bekannt vor. Das Mädchen musste in dem Alter sein, in dem es bald nach Hogwarts kommen würde. Harry schmunzelte, verbarg dies sorgfältig hinter der Zeitung und dachte daran, wie Hagrid ihn einst von den Dursleys fortgeholt hatte. Was war das für ein Erlebnis gewesen damals, als er plötzlich erfuhr, dass er ein Zauberer war. "Die Fahrkarten bitte!", forderte ihn ein Muggel in Uniform auf. Harry legte die Zeitung bei Seite und kramte in seiner Umhängetasche. Der Muggel bedankte sich und wandte sich an die anderen beiden. Harry zählte eins und eins zusammen und ihm schwahnte nichts gutes, als er den erschrockenen Blick des Jungen bemerkte. "Ehm ... die beiden reisen mit mir!", sagte er. Der Muggel stutzte und sein Blick wechselte hin und her, dann nickte er mit misslungenem Lächeln und wandte sich an den nächsten Fahrgast. Der Junge atmete auf, während das junge Mädchen überhaupt nicht bescheid wusste. "Danke", sagte er zu Harry. "Kein Problem, ihr müsst allerdings gleich mit mir aussteigen." Der Junge nickte und seufzte. "Sagt mal, ihr beiden ... ihr seid keine Muggel oder?" Erstaunt blickten die beiden auf und ein Seufzer der Erleichterung entglitt ihnen. Endlich! Ein Zauberer!
An einer Haltestelle, an der eine Hot-Dog-Bude stand, stiegen sie aus. "Es ist ungewöhnlich, dass sich junge Zauberer hier in die Muggelwelt verirren. Was macht ihr hier? Wieso reist ihr nicht mit dem Fahrenden Ritter?", fragte Harry. Der Junge schwieg. "Wir wissen es nicht genau ..." "Na gut ... trotzdem, ihr könnt doch nicht einfach in einen Bus einsteigen, ohne zu bezahlen. Bei den Muggeln ist es immerhin auch so, wer nicht zahlt, darf auch nicht einsteigen. Ich meine, deiner kleinen Schwester - ich nehme mal an, dass sie das ist - mache ich keinen Vorwurf, aber du bist doch schon wesentlich älter und ...." Harry hielt inne und sah den bedrückten Blick des Jungen. Erst jetzt bemerkte er auch, dass das Mädchen barfuß war und dass unter den Umhängen der beiden etwas hervorblitzte, was an die Hosenbeine von Schlafanzügen erinnerte. "Schon gut, entschuldigt bitte", lächelte Harry, der sich fragte, was eben mit ihm losgewesen war. So kannte er sich gar nicht! "Am besten, ihr erzählt mir alles von Anfang an. Wo wolltet ihr denn hin?" "Winkelgasse", meinte das Mädchen. "Aah! Gut, dann brauchen wir den fahrenden Ritter ja nicht. Das ist nur ein paar Straßen weiter. Aber zuerst ..." Er sah zu dem Hot-Dog-Stand. "Habt ihr Hunger?"
In den Mägen der beiden schien Platz für hundert Hot Dogs gleichzeitig zu sein - oder aber sie hatten schon seit Tagen nichts mehr gegessen. Harry schmunzelte, als er die beiden beobachtete, wie sie gierig in das Brot mit Senf, Ketchup, Majo und Gurken hineinbisschen. Er selbst blieb bei dem einen Hot Dog, da er gut gefrühstückt hatte. "Wie heißt du eigentlich?", schmatzte das junge Mädchen mit vollem Mund. "Harry und du?" "Shannon! Und das ist Serenus", sagte sie und deutete auf ihren großen Bruder, dem das Hot Dog wie ein Geschenk Gottes vorkam und sich ganz davon vereinnehmen ließ. Harry lächelte und dachte nach. Shannon und Serenus. Serenus ....Serenus? Das klang ja nach ... Skeptisch musterte er den Jungen, der sein Hot Dog gleich wieder aufgegessen hatte. Was machten zwei junge Zauberer, wie die beiden überhaupt in der Muggelwelt? Wieso waren sie dort gestrandet? Er selber war schon viel zu lange nicht mehr dort gewesen, fiel ihm ein. Er wusste schon gar nicht mehr richtig bescheid. Umso besser, dass er die beiden getroffen hatte. Bei der Gelegenheit konnte er sich ja mal wieder blicken lassen. Gesagt getan und er zeigte den beiden somit den Weg.
"Also, Serenus und Shannon. Da wären wir. Der tropfende Kessel." "Ich weiß!", lächelte Serenus erleichtert, der die Gegend wohl wiedererkannte und sie traten gemeinsam ein. Wie immer war viel los im Wirtshaus und einige zwielichtige Gestalten trieben sich herum, sowie auch weniger zwielichtige Gestalten, die ohne Kapuze über dem Kopf herumliefen. Tom, der Wirt, bemerkte Harry nicht. Es gab viel zutun und so nutzte Harry die Chance, sich unauffällig mit beiden in einer düstere Ecke zu setzen. "Nun, ihr beiden. Es ist ja nicht zu übersehen, dass ihr ... Hilfe braucht. Was ist passiert?", fragte Harry. Serenus seufzte und wusste nicht, ob es klug war, einem fremden Zauberer davon zu erzählen. Aber dieser zeigte sich als sehr hilfsbereit. Wieso also nicht? "Ich sagte doch schon. Wir wissen es nicht, wir ... unsere Eltern haben uns gesagt, dass wir fortlaufen sollten. Sie haben uns nichts erklärt. Es ging so schnell ..." Er musterte Harry, der den Kopf auf die verschränkten Hände gestützt hatte. Mit gerunzelter Stirn lauschte er Serenus. Er schien sich wirklich für ihr Problem zu interessieren. "Was nun mit ihnen ist, weiß ich nicht", fügte er hinzu. "Wir haben uns nicht getraut, nachzuschauen." Harry hob den Kopf von seinen Händen und legte die Arme auf den Tisch. "Wer sind eure Eltern?", fragte er. "Fenella und Severus Snape", sagte Serenus. Moment, dachte Harry auf einmal. Jetzt wurde ihm einiges klar. Ohne diese Brille, die Serenus da auf der Nase trug, sah er dem Jungen, den Harry in Snapes Erinnerung einmal gesehen hatte, zum Verwechseln ähnlich! "Snape? Der Severus Snape?!", lachte Harry. "Du kennst Dad?", fragte Serenus. "Naja, Kennen, was heißt das?" Harry rieb sich verlegen den Nacken. "Er ... er war mein Lehrer in Zaubertränke und zwei Jahre in Verteidigung." "Dad war Lehrer?", fragte Shannon neugierig. Serenus nickte ihr zu. "Ja, Dad hat mal unterrichtet. Hat er mir auch erzählt." Dann jedoch wurde sein Blick wieder betrübt. "Was ist passiert?", fragte Harry dann. Serenus überlegte und seufzte. "Ich hab doch schon gesagt, es ging so schnell. Es war späte Nacht, als unsere Mutter uns sagte, dass wir fliehen sollten." Harry nahm seine Ausgangsposition ein, hob die Braue, legte das Gesicht wieder auf seine verschränkten Finger und grübelte. Serenus hingegen ahnte bei dieser Haltung Schlimmes. Snape würde seine Kinder niemals ohne Grund fortschicken, dachte Harry. Er würde die Situation einschätzen können, wenn er ihr gewachsen wäre. Und das sollte doch schon was heißen, denn er hatte ihn damals im Duell gesehen. Er war nicht schwach, dieser Zauberer. Bei welcher Bedrohung also witterte er eine große Gefahr, vor der er seine Kinder nicht beschützen konnte? Und offensichtlich war er ja auch nicht alleine gewesen! Seine Frau war ja auch in der Nähe, wie er aus den Worten des Jungen herausnehmen konnte. "Du hast nicht gesehen, was passiert ist, oder?", fragte Harry. "Nein", sagte Serenus. "Ich auch nicht!", sagte Shannon, als wolle sie sagen, dass sie auch noch da war. "Hmm ...", Harry überlegte, tribbelte nun nervös mit der rechten Hand auf der Tischplatte herum. Es war, als hätte man in seinem Kopf eine Wand vor die Lösung gesetzt. Sein Bauch jedoch hatte eine Art Wiedererkennungsgefühl, ein Gefühl, dass Alarm schlug und genau wusste, was bald geschehen würde. Aber sein Kopf schaltete einfach nicht! Das ging eine Weile so weiter und Serenus fragte sich, was nun in diesem Menschen vorging. Noch nie war er jemandem begegnet, der so sehr bereit war, jemanden aus der Patsche zu helfen. "Nun, es ist nicht zu leugnen, dass das ein Schlimmes Vorzeichen ist. Euer Vater war zwar immer schwer einzuschätzen, aber ich glaube nicht, dass er jemanden ohne Grund fortschickt ..." Harry fielen die Wörter immer schwerer, je länger er in die Gesichter der beiden sah. Die kleine Shannon sah sogar etwas ängstlich aus. "Habt ihr schon einen Ort, wo ihr übernachten könnt?", fragte Harry, um das Thema zu wechseln. Bei dieser Frage fiel Serenus ein, dass er schon ewig nicht mehr richtig geschlafen hatte. Er selber hatte immer nur eine Art Wachschlaf gehalten, weil ihn die Worte seiner Mutter nicht losgelassen hatten. ‚Du bist der Ältere und hast die Verantwortung für Shannon!' "Wir haben bis jetzt immer draußen geschlafen", sagte Shannon, die erst jetzt wieder bemerkte, dass ihre Füße schmerzten. Harry lächelte warm. Sie kamen ganz und gar nicht nach seinem alten Lehrer. Aber wenn dieser sogar geheiratet hatte, musste er sich doch enorm verändert haben. Immerhin, früher hatte er ein reines Eremitenleben geführt. Ob er es wagen konnte, die beiden bei sich übernachten zu lassen? "Ich frage am besten bei ein paar Freunden nach, ob sie euch aufnehmen, es sei denn, ihr wollt mit meiner Wohnung vorlieb nehmen. Allerdings kann ich euch nur eine alte Schlafcouch anbieten." "Ohja! Das wäre toll!", sagte Shannon begeistert. "Ich weiß nicht ... Das ... können wir nicht annehmen! Können wir nicht ..." Serenus gefiel der Gedanke ganz und gar nicht. Harry sah die Zweifel des Jungen und er besann sich. Snape hätte eher einen Knallrümpfigen Kröter roh zum Frühstück verspeist, als dass er zugelassen hätte, dass jemand aus seinen Wurzeln unter dem Dach eines Potters schlief. Aber wo konnte er die beiden unterbringen? |